Ein Kommentar aus dem Maschinenraum der Selbstverwechslung
Man stelle sich bitte vor: Ein Mensch hat einen Gedanken. Das ist ein gutes Zeichen! Noch denken wir unsere Gedanken selbst. Nun geht es weiter: Der Mensch will diesen Gedanken teilen. Doch statt ihn aufzuschreiben, bittet er ChatGPT, daraus einen „runden“ Social-Media-Beitrag zu machen – mit einem „Catchy Hook“, etwas Pathos und provokanten Zwischenüberschriften. Zack! Fertig ist das digitale Abziehbild menschlicher Innerlichkeit. So weit, so fragwürdig.
Wenige Momente später verbreitet sich das künstlich formulierte Produkt natürlicher Restintelligenz und provoziert erste Kommentare. Eine Freundin, ein Kollege oder ein wildfremder Follower fühlt sich berufen, Senf dazuzugeben – sei es aus ehrlichem Interesse oder um die eigene Auffälligkeit zu erhalten. Und jetzt kommt’s: Nämlich, wenn auch dieser Kommentar nun nicht etwa menschlicher Hand entstammt, sondern das Ergebnis einer energieintensiven, nicht-natürlichen neuronalen Aktivität ist. Eine künstliche Entität, die uns Wortfolgen empfiehlt, welche mit höchster Wahrscheinlichkeit höflich, schlau oder widersprüchlich genug wären, um Diskurs zu erzeugen. Was hier jedoch in Wahrheit geschieht, ist die Simulation von Diskurs.
Maschinen sprechen im Namen von Menschen mit anderen Maschinen im Namen anderer Menschen über das, was einst Gedanke war. Und was tun wir, die menschlichen Protagonisten in diesem Stück? Wir überfliegen, liken und scrollen weiter – in der Illusion, Zeuge menschlicher Kommunikation zu sein.
Ich prompte, also bin ich?
Man muss kein studierter Philosoph sein, um zu erkennen: Das ist nicht nur tragikomisch, sondern auch ein bisschen gespenstisch. Der Mensch, dieses zur Sinnstiftung verdammte Wesen, überlässt die Ausformulierung seiner Gedanken – und damit den wahrscheinlich wichtigsten Moment der Selbstreflexion und Selbstfindung – digitalen Tools, die selbst nichts wollen und Sinn weder suchen noch brauchen. Wir vertrauen unsere Gedanken – die vielleicht sogar originär sind – einem „Ding“ an, das diesen einmaligen und vielleicht kontroversen Teil unserer Identität nach gelernten Mustern arrangiert, glättet und jeder Individualität beraubt.
Der Ausdruck unseres Seins, unsere Positionierung gegenüber der Welt wird also künftig von digitalen Dienstleistern übernommen, damit wir mehr Zeit für die wichtigen Dinge haben? Aber, was ist denn wichtiger, als unsere Gefühle und Überzeugungen für andere in Worte zu fassen? Vielleicht, dass wir Zeit für Disney, Netflix & Co. gewinnen, wo wir fiktiven Charakteren an den Lippen hängen, deren KI-optimierte Dialoge eine bestmögliche Identifikationsfläche für unsere unausgesprochenen Gedanken bieten.
Die Demokratisierung der Rhetorik
Aber ich bin voreingenommen, weil ich beruflich schreibe und das selbstgeschriebene Wort als scharfes Schwert schätze. Mit etwas Abstand könnte man freilich sagen: Diese Entwicklung ermöglicht vielen Menschen, die selbst keine Worte finden, Ihre Gedanken auszudrücken. Erleben wir hier einfach die Demokratisierung der Rhetorik? Mag sein. Aber was bleibt von Demokratie und Meinungsfreiheit, wenn das Sagbare nicht mehr gesagt, sondern lediglich generiert wird? Wer generiert wessen Gedanken nach welchen Regeln? Und denken diese Regeln den Gedanken dann auch zu Ende und machen ihn im Zweifel zur Meinungsvorlage für Millionen?
Wenn Ihr mich fragt: Wir brauchen dringend wirklich sinnvolle Einsatzfelder für Künstliche Intelligenz! Und es gibt sie ja! Wenn physische KI durch Roboter schwere körperliche Arbeit erleichtert. Wenn sie Daten auswerten, die kein Mensch je überblicken könnte – etwa in der Medizin oder in der Klimaforschung. Wenn KI uns dient, nicht ersetzt. Wenn sie Werkzeug ist, nicht Identitätslieferant. Oder wenn sie beispielsweise in den sozialen Medien KI-generierte Texte identifiziert und entsprechend markiert.
Achte auf deine Gedanken – sie werden dein Prompt.
Dort, wo das Ich ohnehin schon zum Avatar verflacht und sich die Millionen Schattierungen unserer Emotionswelt auf ein paar Emojis reduzieren, sollte man mit Maschinen-Mundwerk sehr vorsichtig umgehen. Am Ende sprechen wir sonst nur noch über Gefühle, die wir nicht gefühlt, über Gedanken, die wir nicht gedacht, und über Texte, die wir nicht geschrieben haben.
Ich schlage daher die Abwandlung einer bekannten Gedankenkette vor, deren Herkunft oft fälchlicherweise Konfuzius zugeschrieben wird:
Achte auf deine Gedanken – sie werden dein Prompt.
Achte auf deinen Prompt – er wird dein Post.
Achte auf deinen Post – er wird dein Image.
Achte auf dein Image – es wird dein Ich.
Achte auf dein Ich – denn es formt deine Gedanken.